
Die Reaktionen auf die Halbzeitshow des Super Bowls waren sehr unterschiedlich. Die Meinungen reichten von Enttäuschung über die Auswahl der Stücke bis hin zu Anerkennung für die gewagte Zusammenstellung der Setlist und der Gesamtkomposition. Dabei hatte Kendrick Lamar die Setlist für eine reine Hip-Hop- und Rap-Show sorgfältig geplant. Er wollte Rap, LA und seine Kultur auf die größte Sport- und Unterhaltungsbühne bringen, wohl wissend, dass dies kontrovers sein könnte. Er stellte die Erwartungen an eine „spektakuläre“ Show voller Hits infrage, indem er eine rohe, authentische und auf Rap konzentrierte Show bot. Indem er die Straßen von Compton zeigte, setzte er die politischen Themen fort, die ihn seit Beginn seiner Karriere beschäftigen. Lamar weiß, dass der Super Bowl ein Spektakel des Neoliberalismus, Militarismus und Konsumismus ist, bei dem Rüstungskonzerne und milliardenschwere Unternehmen in den Pausen für die Illusion des Fortschritts werben, bevor Künstler in der Halbzeitpause normalerweise den Frieden besingen. Gleichzeitig werden schwarze Sportler für ihr Talent gefeiert, aber für ihre politischen Ansichten zum Schweigen gebracht (Kaepernick). Im Folgenden soll analysiert werden, warum die Zuschauer etwas Besonderes sahen, ohne es auf den ersten Blick zu bemerken.
Die Halbzeitshow des Super Bowls war eine Performance, ein Kunstwerk, das als komplexes, tiefgründiges Werk betrachtet, erst beim wiederholten Ansehen seine volle Bedeutung entfaltet. Ein wesentlicher Aspekt ist die Darstellung Drakes (“Mr. Industry”) als Symbol für die Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung durch das Establishment. Dabei wird die gesamte Half-Time-Performance von einer Videospiel-Leitidee begleitet, wiederholt treten Elemente eines Computerspiels in Erscheinung. Ist das Spiel auch als ein Symbol zu interpretieren? Eine mögliche Deutung ist, dass Kendrick Lamar für diese Zeit die Macht über Symbolik und das Gesagte hatte.
Samuel L. Jackson, der die Show als Onkel Sam begleitet, und selbst als eine Figur des Establishments durch seine Rollen in „Star Wars“, „Stirb langsam“ oder „Django Unchained“ gesehen werden kann, liefert wichtige Einwürfe. Dabei ist Onkel Sam nicht nur Symbol, sondern er ist das System, die Regierung, die Industrie, die Maschine, die die Regeln festlegt, aber nicht fair spielt.
Samuel L. Jackson alias Uncle Sam sagt: „Willkommen zum Spiel Amerikas!“ Dabei geht es nicht um den Super Bowl oder Football, sondern um das Spiel der amerikanischen Regierung mit der schwarzen Bevölkerung und Minderheiten.
Lamar beginnt mit der Aussage, dass die Revolution auch im Fernsehen stattfinden und übertragen wird, zum richtigen Zeitpunkt, aber mit dem falschen Mann (eine Anspielung auf die Wahl Trumps). The Revolution Will Not Be Televised ist ein Gedicht/Lied von Gil Scott-Heron aus den Jahren 1969/70. Es war ein Aufruf an die Afroamerikaner, aus der passiven Konsumentenrolle auszubrechen und aktiv gegen Rassismus, Rassentrennung und soziale Missstände zu kämpfen, inspiriert von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Kendrick Lamar überträgt es auf das Heute, ins Zeitalter der digitalen Revolution. Dabei betont er, dass er nicht zu denen gehören will, die sich ohne Widerstand anpassen und verstecken. Stattdessen betont er die Bedeutung des Kollektivs und dass er für Überzeugungen einstehen will. Seine Botschaft ist eine klare Ansage gegen Passivität und Anpassung an die politischen Gegebenheiten im Land und für die Meinungsfreiheit. Lamar erinnert daran, dass dem System es bis heute immer wieder gelungen ist, die Einheit der schwarzen Bevölkerung zu zerstören – sei es durch Masseninhaftierung, Ermordung oder wirtschaftliche Manipulation.
Jackson (als Uncle Sam) fragt Lamar: „Weißt du wirklich, wie man spielt? Das Spiel ist zu laut, zu ghettomäßig, reiß dich zusammen!“
Und Kendrick fügt in seinem Song „Humble“ hinzu: „Setzt euch hin, seid demütig“, denn das ist es, was Amerika von den Schwarzen und Minderheiten will („Sit down, be humble“). Und als Lamar und seine Tänzer während seines Hits eine menschliche amerikanische Flagge auf dem Spielfeld bildeten, war klar: Eine bessere Stellungnahme über den aktuellen Zustand des Landes, das einen Spiegel vorgesetzt braucht, kann es nicht geben. Lamar steht zwischen einer geteilten Fahne, die eine geteilte Nation repräsentiert, und gleichzeitig ist das Wegdrehen der Tänzer eine Anspielung darauf, dass die Nation auf dem Rücken der schwarzen Bevölkerung errichtet wurde. Zeitgleich stehen die Farben der Flagge auch für die Gangs Crips und Bloods in LA. Die blau gekleideten Crips und die rot gekleideten Bloods vereinen sich während der Performance trotz ihrer Unterschiede und ihres Hasses aufeinander.
Nachdem sie vereint sind, kommt Onkel Sam vorbei und sagt: „Oh, ich sehe, ihr habt eure Jungs mitgebracht, das ist der Kultur-Cheat-Code. (Er ergänzt: “Score keeper, deduct one life!)“
Geht es lediglich um eine Figur im Videospiel oder ist es gleichzeitig eine Anspielung auf die Bürgerrechtsbewegung und auf Persönlichkeiten wie Fred Hampton, der rivalisierende Gangs vereinigte und von der Polizei getötet wurde? Hampton, Teil der Black Panther Party in Chicago, stieg schnell zum stellvertretenden Vorsitzenden auf und handelte einem Friedenspakt zwischen rivalisierenden Banden aus. Später wurde er im Schlaf von der Polizei erschossen.
Man beachte auch, dass die Trainingsanzüge aussehen wie die von Squid Game, was eine Darstellung des Kapitalismus ist, wie die Menschen am Boden (die Ärmsten der Ärmsten) weiterhin untereinander um das Geld an der Spitze kämpfen, was nichts bringt.
Nun zur Performance von SZA: Bei der Performance steht sie auf einem umgekehrten Dreieck, was die Energie der weiblichen Göttinnen bei der Erschaffung der Welt symbolisiert, eine Tatsache, die in unserer patriarchalischen Gesellschaft, die häufig (immer noch) Frauen den Männern unterordnen, nicht erwähnt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass SZA anschließend von Menschen in roten und weißen Trainingsanzügen umgeben ist, könnte eine Anspielung auf Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ sein. In dem literarischen Werk übernehmen die christlich-fundamentalistischen „Söhne Jakobs“ die Macht in den USA und errichten die theokratische Diktatur Gilead. Frauen werden systematisch entrechtet: Sie dürfen kein Eigentum besitzen, haben sich Männern unterzuordnen und sind auf ihre Funktion als Gebärmaschinen reduziert. Zensur, Überwachung und Gewalt sichern die Herrschaft. Ist dies eine Anspielung auf die politischen Entscheidungen Trumps im Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung der Frauen?
So fügt sich auch die Aussage von Onkel Sam ein, der wieder herauskommt und sagt: „Ja, das ist es, was Amerika will, schön und ruhig, vermasselt es nicht.“
Lamar antwortet unmittelbar vor seinem Superhit “Not like us” mit “40 Acres and a Mule – This is bigger than the music“ (Anspielung auf die Versprechen an Schwarze). Der US-Kongress plante nach dem amerikanischen Bürgerkrieg eine Entschädigungszahlung für die afroamerikanische Bevölkerung in Höhe von 40 Morgen Land und einem Maulesel pro Familie. Das sogenannte „Forty Acres and a Mule“-Gesetz von 1865 wurde jedoch nie ratifiziert, da es nicht die notwendige Zustimmung des Kongresses erhielt. Dennoch betrachten politisch engagierte Afroamerikaner das Martyrium ihrer aus Afrika verschleppten Vorfahren als „Verbrechen des Jahrtausends“ und haben die gebrochene Zusage nicht vergessen.
Man kann das Spiel lesen, aber man kann keinen Einfluss vortäuschen, was buchstäblich die Art und Weise ist, wie die Musikindustrie und das politische System in Amerika aufgebaut sind. Kendrick nutzt seinen Einfluss auf der größten Bühne vor dem neuen Präsidenten des Landes (der das Stadium zum Auftritt Lamars verlässt), um uns alle daran zu erinnern, für das einzutreten, woran wir glauben.
Der einzige offensichtliche Protest in der Halbzeitpause kam von Zül-Qarnaįn Nantambu, einem Mitglied der Tänzer. Nantambu hatte während des Auftritts von Lamar ohne dessen Wissen eine Flagge des Gazastreifens und des Sudans entrollt und wurde daraufhin von den Ordnungshütern in Gewahrsam genommen. Die Polizei fragte Lamar sogar, ob er Anzeige erstatten wolle, was er wenig überraschend ablehnte. Das Bild eines Menschen, der angegriffen wird, weil er seine Meinung äußert, ist eindrucksvoll, insbesondere vor dem Hintergrund der Themen, mit denen sich Lamar in seinem Auftritt befasst. In diesem Moment wurde die Realität zu einer brutalen, verstörenden visuellen Kulisse für die Kunst. Nantambu handelte vermutlich unabhängig und aus tiefster Überzeugung; seine Tanzkollegen reagierten trotzdem mit erhobenen Fäusten in Solidarität.
Und dann der ikonische Schlussakt (ja, auch ein Seitenhieb an Drake): Als er Serena Williams auf die Bühne holt, die nach einem gewonnenen Tennismatch im Wimbledon für ihren Crip Walk besonders online gescholten wurde, war dieser Auftritt eine Botschaft des Trotzes an das kollektive Bewusstsein und eine Erinnerung daran, dass es um schwarze Kultur geht. Der Tanz, eine Hommage an ihre Wurzeln in Compton, wurde zu einem weiteren Angriffspunkt, da viele der erfolgreichen Tennisspielerin vorwarfen, „Ghetto“ zu sein, weil sie es wagte, ihrer Heimat zuzujubeln und sich über ihren Sieg zu freuen. Doch letztlich ist der Tanz ein Symbol für unumwundenes Schwarzsein.