
In 2019 machten Athletenproteste auf ein weiteres polarisierendes Thema zur olympischen Charta aufmerksam. Proteste wie die der US-Amerikaner*innen Race Imboden und Gwen Berry, die sich bei den Pan Amerika Spielen 2019 in Lima mit den politischen Protesten Colin Kaepernicks und John Carlos/ Tommie Smith gegen Rassismus und Polizeigewalt solidarisierten, verdeutlichen, dass sich die olympische Bewegung intern uneins ist, wie mit politischen Äußerungen und Aktionen umgegangen werden soll.
Was war der Hintergrund? Die Regel 50.2 verbietet Athlet*innen politische Statements abzugeben bzw. während der Olympischen Spiele zu protestieren. Die Regel lautet: „No kind of demonstration or political, religious or racial propaganda is permitted in any Olympic sites, venues or other areas“ (IOC, 2019). Die Regel zielt darauf ab, Politik aus den Olympischen Spielen herauszuhalten und sie zu einer reinen Sportveranstaltung zu machen, was jedoch bisher nie gelang.
Sollte politischer Protest bei Olympischen Spielen verboten bleiben? Ist es sinnvoll aus Sicht der Sportorganisationen grundlegende Rechte der Athlet*innen für eine bestimmte Zeit zu beschneiden? Kann man die freie Meinungsäußerung, ein Grundrecht in Demokratien, begrenzen, nur weil die Olympischen Spiele und das IOC historisch durch ihre Vorgaben und Traditionen als apolitisch gelten?
In seiner Neujahrsansprache 2020 wies IOC-Präsident Bach darauf hin, dass das IOC keine politischen Äußerungen und Aktionen bei den Olympischen Spielen in Tokio dulden würde. Er begründete die Vorgabe mit dem Schutz der Olympischen Spiele und der politischen Neutralität der Olympischen Idee (vgl. Bach, 2020). Diese Einschränkungen gelten jedoch nur für Athlet*innen und nicht für die Gastgebernationen (siehe unten). Ein Widerspruch! Im Sommer 2020 kam es zu umfassenden Black Lives Matter Protesten. Grund waren die Tötung schwarzer US-Bürger*innen durch Polizeibeamte sowie Polizeigewalt und Rassismus. Viele Sportler*innen weltweit beteiligten sich an diesen Protesten und rückten das Thema der freien Meinungsäußerung auch im Spitzensportsystem in den Fokus.
Sport und Politik zu trennen, wie die Charta und Bach formulieren, war und ist eine utopische Idee des IOC und hat mit der Realität wenig zu tun. Historische und aktuelle Beispiele belegen dies. Auch eine Vorgabe wie die Regel 50 der Olympischen Charta wird da nichts Grundlegendes ändern.
Bachs klare Worte zu Beginn des Jahres 2020 waren auf die zunehmenden politischen Aktionen von Athlet*innen bei internationalen Wettkämpfen zurückzuführen. Mündige und politikbewusste Athlet*innen wie Race Imboden, Gwen Berry, Megan Rapinoe, Becky Scott oder Max Hartung bereiten den Funktionären beim internationalen olympischen Verband im Hinblick auf die Spiele in Tokio 2021 und Peking 2022 Kopfschmerzen. Bach kritisiert die größer werdende Politisierung der Olympischen Spiele durch die Athlet*innen. Er sieht in diesen Aktionen die Absicht die Spiele für politische Interessen und für bewusste Spaltungen zu missbrauchen. Intern ist es vielleicht auch die Angst vor der vollständigen Entmythisierung des apolitischen Sports und letztendlich vor einer möglichen Ablösung der Autonomie des Sports.
Als Konsequenz der Äußerungen Bachs veröffentlichte das IOC Anfang 2020 eine Liste an Regeln und Leitlinien, weiterentwickelt durch die Exekutiv-nahe und nicht unabhängige IOC-Athletenkommission, die die Bedeutsamkeit der Regel 50.2 der Olympischen Charta und die politische Neutralität des IOC abermals herausstellte. Die Hauptaussage der neuen Vorgaben lautete: “sport is neutral and must be separate from political, religious or any other type of interference.” (IOC Athletes’ Commission, 2020).
Dass diese Stellungnahme durch die der IOC-Exekutive sehr nahen Athletenkommission des IOC mitverfasst worden ist, zeigt die unzureichende Unabhängigkeit der Kommission vom Weltverband (vgl. IOC Executive Board and Athletes’ Commission, 2020). Viele Athlet*innen weltweit können sich dem Schreiben der IOC-Athletenkommissionen nicht anschließen, da es grundlegende Menschenrechte wie die Meinungsfreiheit umfassend einschränkt. Die Vorgaben verbieten jegliche politische Aktion wie Handbewegungen, Symbole oder das Protestieren (z.B. das Knien) auf dem Podium sowie Äußerungen während der Olympischen Spiele. Das Verbot gilt für alle olympischen Spielstätten, inklusive dem Spielfeld, dem olympischen Dorf und den Orten der olympischen Zeremonien. Nur während Pressekonferenzen, Interviews, in den Mixed Zones sowie auf den digitalen Plattformen dürfen die Athlet*innen ihre Meinungen frei äußern (vgl. IOC, 2020).
Schockierend ist nicht, dass das IOC zusammen mit seiner Athletenkommission sich weiterhin hinter dem Deckmantel der politischen Neutralität versteckt und die Rechte der freien Meinungsäußerung der Athlet*innen erheblich einschränken will, sondern dass die IOC-Athletenkommission in dieser Stellungnahme aus 2020 ausdrücklich betonte, dass jeglicher Protest außerhalb der offiziellen Spielstätten mit den lokalen Gesetzen vereinbar sein muss. Wenn autoritäre Staaten wie Russland oder China z.B. vor den Spielen entscheiden, Proteste zugunsten der Rechte von LGBTQ-Mitgliedern gesetzlich unter Strafe zu stellen, können Athlet*innen mit rechtlichen Auseinandersetzungen in dem Ausrichterland rechnen. Das IOC und die Athletenkommission liefern den lokalen Organisatoren über das Statement einen Freifahrtsschein für die Verfolgung der Proteste von Spitzensportler*innen außerhalb der Wettkämpfe und sorgen so für eine Unterwerfung aller Athlet*innen. Aufgrund dieser Rechtslage werden sich nur wenige trauen, politische Aussagen zu treffen. Der Status Quo wird über die neuen Regelungen konserviert (vgl. IOC Athletes‘ Commission, 2020).
Im Anschluss an diese Empfehlungen wurde die IOC-Athletenkommission aufgefordert, weitere Konsultationen zu dem Thema der Meinungsäußerungen bei den Olympischen Spielen anhand einer eigenen Athletenbefragung durchzuführen.
Auch das Olympische und Paralympische Komitee der Vereinigten Staaten (USOPC) setzte nach den Black Lives Matter Protesten im eigenen Land ein Expertengremium ein, dass sich mit den Grundrechten der eigenen Athlet*innen auseinandersetzten sollte. Anhand der erarbeiteten Ergebnisse dieses Gremiums teilte das USOPC im Dezember 2020 den Mitgliedern der Olympiamannschaft mit, dass sie ihre Ansichten zum Ausdruck bringen dürften, ohne eine Strafe des amerikanischen Olympischen Komitees befürchten zu müssen, die sie von der Teilnahme an internationalen Veranstaltungen ausschließen oder ihnen finanziell schaden könnte. Das USOPC entschied als wichtigster nationaler Dachverband, dass es nicht angebracht sei, Athlet*innen für die Äußerung ihrer Meinung oder für friedliche Proteste bei olympischen Veranstaltungen zu sanktionieren (siehe weiter unten). Die Entscheidung seitens des USOPC stellt einerseits ein implizites Eingeständnis dar, dass das Eintreten für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit politisch ist und aus moralischen Gesichtspunkten zukünftig schwer zu sanktionieren sein wird. Es wirft die Frage auf, wie nationale NOKs fortan mit solchen Protesten, so bei Weltmeisterschaften und Olympia, und dem strikteren Reglement seitens des IOC umgehen werden.
Das IOC, überrascht über die Entscheidung des USOPC, will auch weiterhin nichts von diesem aufgeklärten Denken wissen: Keine Athletenproteste an wichtigen und öffentlichkeitswirksamen Orten bei den Olympischen Spielen! Nur wenige Monate später, im Frühjahr 2021, legte die IOC-Athletenkommission die Ergebnisse der eigenen Athletenbefragung, einem Konsultationsprozesses mit über 3.500 Athleten aus 185 Nationalen Olympischen Komitees und allen 41 olympischen Sportarten, vor.
Die daraus resultierenden Empfehlungen der IOC-Athletenkommission diktieren weiter, wann, wo und was Athlet*innen sagen dürfen. Dies ist das Gegenteil von Meinungsfreiheit und sorgte besonders unter den Spitzensportler*innen für Diskussionen. Unabhängige Athletenvertretungen wie Global Athlete, Athleten Deutschland oder The Athletics Association distanzierten sich von den Aussagen der Befragung. Nach den Ergebnissen der Umfrage sagten 70 Prozent der 3.547 Befragten, dass das Stadion und die offiziellen Zeremonien kein geeigneter Ort seien, um zu demonstrieren oder zu protestieren. Über zwei Drittel – 67 Prozent – vertraten die gleiche Ansicht, wenn es um das Podium ging. Wie erwartet, hat die IOC-Athletenkommission formell empfohlen, das Verbot von Protesten auf dem Podium, dem Spielfeld und den Zeremonien bei den Olympischen Spielen beizubehalten. Während ein Großteil der Ergebnisse zu erwarten war, forderte die IOC-Athletenkommission weitere Klarheit über die Sanktionen, die gegen Athleten verhängt werden könnten, die bei zukünftigen Olympischen Spielen in Sperrgebieten protestieren. Sie empfahl jeden Fall individuell zu betrachten (vgl. IOC Athletes Commission, 2021). Dabei war es die Kommission selbst, die im Januar 2020 (siehe oben) die Richtlinien nach Regel 50 erarbeitete und den Athlet*innen mit Disziplinarmaßnahmen drohte. Es bleibt unklar, wie bei den Spielen in Tokio 2021 verfahren wird.
Die Umfrage mit ihrer Forschungsmethodik ist fragwürdig, wirkt nicht unabhängig, teilweise beeinflussend. Es entsteht der Eindruck, dass Suggestivfragen gestellt wurden, um im Anschluss ein bestimmtes Narrativ bedienen zu können. Besonders bemerkenswert ist, dass ein Großteil der befragten Athlet*innen aus China stammt, die hinsichtlich allgemeiner Menschenrechte und demokratischen Grundrechten unter erheblichen Einschränkungen zu leben haben. Sie haben es im Alltag nicht nur mit spitzensportlichen sondern auch politischen Monopolen zu tun. Es wirkt absurd sowohl Menschen in Demokratien als auch diktaturähnlichen Strukturen (die schauen müssen, was sie sagen) über Menschenrechte und Meinungsfreiheit zu befragen. Die durch die IOC-Athletenkommission durchgeführte Befragung ist eine einfache Verfahrensweise, um Mehrheiten zu ermächtigen und Minderheiten aus möglichen Veränderungsprozessen herauszuhalten.
Dass Athlet*innen aus autokratischen Systemen politischen Protest bei den Olympischen Spielen ablehnen, ist erwartbar, da die Machtapparate von ihnen systemkonforme Antworten erwarten und sie bei abweichenden Statements und Aussagen mit Repressalien durch das politische System zu rechnen haben.
Ist diese Befragung eine Art „Olympia-Washing“? Sie will eine künstliche Mehrheitsmeinung kreieren, ohne die Stimmen der marginalisierten Sportler*innen zu berücksichtigen und diese mit einzubinden.
Die Umfrage wird vom IOC als repräsentativ bezeichnet, obwohl dies anhand der bekannten Daten anzuzweifeln ist. Glaubt das IOC tatsächlich, dass Athlet*innen in einer solchen Befragung z.B. in einem Ein-Partei-Staat frei antworten?
Die deutschen Athlet*innen z.B. beteiligten sich zurückhaltender an der Befragung. Liegt es daran, dass Athlet*innen aus Bachs Heimatland dem IOC kritisch gegenüberstehen? Inhaltlich gibt es tiefe Gräben zwischen dem IOC-Präsidenten und den Athlet*innen seines Herkunftslandes, besonders im Hinblick auf spitzensportliche, politische und wirtschaftliche Partizipation, Menschenrechte, Athletenrechte und die angebliche politische Neutralität des weltweiten Dachverbandes.
Teil 2 (Analyse der Gesamtsituation) folgt am kommenden Montag.
Artikel zu Regel 40:
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