Die Regel 50 – Ein heißer Sommer für das IOC? (Teil 2)

(Auszug)

Die kontroverse Diskussion zur Regel 50.2 der Olympischen Charta und die Entscheidung, die Regel zu erhalten, legen die Verlogenheit des IOC offen. Ein veraltetes Sportsystem schränkt über eine Regel die Rechte der Athlet*innen auf freie Meinungsäußerung ein, erkennt damit Grundrechte nicht an und unterdrückt sie. 

Bürgern, ob in Deutschland oder den USA, wird das Grundrecht der freien Meinungsäußerung zugesprochen, doch während der größten sportlichen Wettkämpfe weltweit, wird den gleichen Bürgern, nur diesmal in der Funktion der Athlet*innen unterwegs, dieses Recht durch den global mächtigsten und machtversessenen Verband IOC abgesprochen. Dem Verband kann eine Freiheits- und Demokratieverdrossenheit vorgeworfen werden. Wie ist dies innerhalb der weltweiten Staatengemeinschaft möglich? 

Das IOC ist nicht gegen Politik, sondern steht für eine bestimmte Art der Politik. Gesellschaftliche und soziale Kritik sind nicht erwünscht. Das IOC hat Probleme mit Protesten, die gesellschaftliche Ungleichgewichte und die Unterdrückung von Minderheiten anprangern. Sobald es zum Beispiel um das Thema Rassismus geht oder die Unterdrückung einzelner Bevölkerungsgruppen, will das IOC nicht Teil dieser Diskussionen sein. Der Status Quo und die Vorherrschaft der weißen Männer hat Vorrang (vgl. Boykoff, 2020).  

Erschreckend ist dabei, dass das IOC und die IOC-Athletenkommission trotz der vielen Gegenargumente an dem Verbot der freien Meinungsäußerung festhalten wollen. Damit widersprechen sie auch den Empfehlungen der eigens in Auftrag gegebenen Kommission zur Achtung der Menschenrechte im IOC.  Der Bericht fordert den Dachverband auf, die formulierten Vorschläge zu implementieren (siehe oben).  

Stattdessen erhebt sich das IOC mit dem weiterhin geltenden Verbot politischer Statements wie z.B. dem Tragen der Phrase „Black Lives Matter“, dem Hinknien oder gestreckten Faust, über alle demokratischen Instanzen. Zwar sind Rede- und Meinungsfreiheit bis heute keine absoluten Rechte, aber es nicht Aufgabe eines Verbandes, die Menschenrechte von Athlet*innen aus aller Welt zu definieren bzw. einzuschränken. Keine Umfrage kann dies rechtfertigen (vgl. EU Athletes, 2020). 

Zusätzlich sind die Vorgaben des IOC ein direkter Angriff auf die freie Meinungsäußerung schwarzer Athlet*innen durch eine IOC-Athletenkommission, der keine schwarzen Mitglieder angehören. Die aktuelle Entscheidung, an der Regel 50 festzuhalten, versucht, Sportler wie Gwen Berry zum Schweigen zu bringen, die Beispiele für Mut, Verantwortungs- und Selbstbewusstsein sind, die es braucht, um öffentlich gegen Ungerechtigkeit z.B. Rassismus Stellung zu beziehen. 

Beispiele wie das Absehen von Bestrafungen für protestierende Athlet*innen durch das USOPC verdeutlichen, dass der Mythos einer Trennung von Politik und Sport unmöglich aufrecht zu erhalten ist. Es zwingt die Verbände und Funktionäre dazu, mit den Athlet*innen darüber zu debattieren, wie die Beziehung von Sport und Politik, zukünftig geregelt werden soll. Eins wird mit der Entscheidung des amerikanischen Dachverbandes, von Sanktionen abzusehen, klar; diese ersten Zugeständnisse werden sich nicht mehr rückgängig machen lassen. Der indirekte Machtgewinn der Sportler*innen, die sich für Grundrechte, soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus und Diskriminierung aussprechen, wird es den Sportverbänden weltweit immer schwerer machen, mögliche Proteste zu unterbinden. 

Die Gefahr für die Werte des Sports ist nicht der Protest eines/ einer einzelnen Athlet*in, sondern vielmehr die Unterbindung von Debatten, die in einer Sprachlosigkeit der spitzensportlichen Vorbilder münden. Wenn Sportler*innen aufgrund eines olympischen Maulkorbs nicht für ihre Überzeugungen einstehen können, werden sie zu unmündigen Begleiter*innen der Gesellschaft. Eine Schweigespirale kann weder im Interesse des Spitzensports noch das Ziel einer offenen und toleranten Gesellschaft sein, da sie Fortschritt verhindert. Verbreitet sich diese Tendenz weiter, haben demokratische Gesellschaften ein Problem und auch der Sport verliert an Ansehen, da er sein wohl positivstes Attribut für die Political Correctness des Weltverbandes einbüßt. Häufig sind es die ehrlichen oder spontanen Aktionen und Äußerungen der Spitzensportler*innen, die mehr Aufsehen und Aufmerksamkeit erregen, als Recherchen, Dokumentationen oder Diskussionen. Spitzensportler*innen, die als Menschenrechtsaktivisten agieren, sollten durch alle Institutionen und Rechte sowie Gesetze geschützt werden, ohne wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Einschränkungen oder Strafen fürchten zu müssen. 

Schließlich sind es die Athlet*innen, die sich mindestens vier Jahre auf die Olympischen Spiele vorbereiten und viele private und biographische Entbehrungen in Kauf nehmen, um diesen einen Moment zu erreichen. Dieser Moment, meistens ein einziger Wettkampf, ist unmessbar wichtig. Wenn Athlet*innen dieses Ereignis uneigennützig auch für gesellschaftlich schwierige Themen nutzen und opfern wollen, sollten sie dieses Recht uneingeschränkt haben. Regeln wie 50.2 werden die heutigen Athlet*innen nicht stoppen, deshalb sind die Solidaritätsbekundungen und juristische Unterstützungen durch unabhängige Athletenvertretungen wie Athleten Deutschland und Gewerkschaften wie UniGlobal so wichtig. Es bedarf nicht nur der Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit, sondern die Athlet*innen müssen vor jeglicher Art des Missbrauchs geschützt werden und bei Konflikten einen angemessenen Rechtsbeistand erhalten. 

Athlet*innen wie Rudolph, Smith, Carlos oder Ali haben in der Vergangenheit gezeigt, wie sich Athlet*innen im besonderen Maße für die Schwächsten der Gesellschaft einsetzen können. Der Mut dieser Athlet*innen hat wichtige gesellschaftliche Themen in die Öffentlichkeit getragen und zu nachhaltigen Veränderungen geführt. Aktuell gibt es eine Generation an Athlet*innen wie Rapinoe, Kaepernick, Berry, Imboden, Scott und Hartung, die davon überzeugt ist, dass es wichtiger ist, aufzustehen und sich zu äußern (auch zu moralischen Fragen), als mögliche Repressalien durch einen Verband zu befürchten. Nur so werden Athlet*innen zu wahren Vorbildern, denn dann gehen ihre Leistungen über das geschlossene System Spitzensport hinaus. Über ihre sportlichen Leistungen verschaffen sie sich Gehör für gesellschaftliche Themen: das Ergebnis ist positiver gesellschaftlicher Wandel. 

Wann sind Einschränkungen beim Recht auf Äußerungen zu politischen Entwicklungen notwendig? Wenn Grundrechte von Personen verletzt werden bzw. zum Hass oder Gewalt aufgerufen wird, dann kann und muss das IOC konsequent handeln. Über der Meinungsfreiheit steht die Würde des Einzelnen, damit besitzt auch die Meinungsfreiheit klare Grenzen. Wird diese Würde verletzt, gilt es einzuschreiten. Denn auch Grundrechte des Menschen bzw. der Athlet*innen sind nicht grenzenlos. Es sollte nicht die Aufgabe des IOC sein, Meinungen zu unterbinden, sondern vielmehr die Pflicht sein, ein Mindestmaß an Zivilität im Umgang miteinander zu garantieren (vgl. Human Rights Committee, 2011, 5-6). Es bedarf eines gemeinsamen Verhaltenskodexes, um der Komplexität des Geflechts Sport und Politik gerecht zu werden. Die Überschneidungspunkte zwischen den beiden Bereichen auszuloten könnte eine unabhängige Aufsicht leisten, ohne Sportfunktionäre und Sponsoren. 

Meinungsfreiheit kann auf unangenehme Entwicklungen wie Korruption und Amtsmissbrauch im geschlossenen System Olympia hinweisen, was möglicherweise bei Funktionären auf Widerstand stößt, besonders dann, wenn sie selbst lange Teil des Systems sind. Beispiele wie Muhammad Ali oder John Carlos und Tommie Smith zeigen den immensen Einfluss der Meinungsfreiheit im Sport als mächtiges Werkzeug des gesellschaftlichen Wandels. Sportler*innen können sich Gehör verschaffen, heute auch dank der sozialen Medien. Die öffentliche Aufmerksamkeit für Sportler*innen war nie größer.  Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte im und außerhalb des Sports, haben sich als wichtige Impulse herausgestellt, die den Mythos einer Trennung von Sport und Politik erheblich erschüttert haben. Wenn die Athlet*innen ihre Proteste nun zu den Olympischen Spielen in Tokio und Peking sowie zur Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar tragen, würde der Mythos endgültig begraben. 

Die Pandemiemonate 2020/21 haben den Sport nachhaltig verändert. Sport und Politik sind verwoben, angetrieben von einem weltweiten Protest gegen Rassismus und einem größeren Fokus auf Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit. 

Es wird interessant sein, wie das IOC auf Proteste bei den anstehenden Spielen reagieren wird. Was macht das IOC, wenn sich Athlet*innen auf die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen berufen und sich auch während ihres Protests daran orientieren? Der permanente Beobachterstatus sowie die enge Kooperation mit der UN würde den Dachverband in einen unüberwindbaren Zwiespalt manövrieren und ihn öffentlich unter Druck setzen.  

Trotzdem bleibt offen, wie das IOC als weltweit agierende Institution in Zukunft bei den Olympischen Spielen mit diesen Protesten konkret umgehen wird. Werden sich nationale Olympischen Komitees möglichweise nonkonformistisch positionieren und reagieren? Gibt es Unterschiede in den Reaktionen hinsichtlich der Gastgebernationen? Fällt die Reaktion in Japan anders aus als in China, Frankreich oder den USA?  

Unterschiedliche Reaktionen lassen sich vermuten. Werden sie ihre Athlet*innen unterstützen oder sie bestrafen? Wie wird z.B. die Haltung der nationalen olympischen Komitees sein, wenn sich ein/ eine Athlet*in öffentlich gegen die einheimische Politik ausspricht? Dürfen Sportler*innen zukünftig im gleichen Maße politisch sein, wie es das IOC selbst des Öfteren ist? Können Sportler*innen für Menschenrechte und gegen Rassismus eintreten? Oder wird der Protest aus Angst vor dem Verlust von Zuschauern und Sponsoren sanktioniert?  Was passiert, wenn sich Athlet*innen gegen die Diskriminierung und Missbrauch von Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, Geschlechtsmerkmalen oder sexueller Gewalt positionieren? Wie werden sich die einzelnen Athletenkommissionen verhalten? Auch die Meinungen der Athlet*innen innerhalb einer Nation können stark divergieren. Doch genau diese Unterschiede sind Teil der Meinungsfreiheit. Ein Meinungsverbot ist keine Lösung und mit demokratischen Grundrechten unvereinbar. Das IOC ist gezwungen sich den unangenehmen Fragen der Vergangenheit und Gegenwart zu stellen und Veränderungen vorzunehmen, um die ursprünglichen Ideale des Olympismus nicht zu verraten. 

Autor: derballluegtnicht

Writes about the politics of sports. For him sports and politics always mix.

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